Von Denk- und Mahnmälern
Dissonanz als Schlüssel für ein partizipatives Kulturerbekonzept?
Von Prof. Dr. Nina Mekacher, Leiterin Fachbereich Konservierung und Restaurierung, Hochschule der Künste Bern
– Von Denk- und Mahnmälern, 02. décembre 2024Die «Black Lives Matter»-Bewegung schärft den Blick auf eine rassistisch konnotierte Erinnerungskultur und stösst eine Beschäftigung mit «dissonantem Kulturerbe» an. Dabei erweist sich das allgemein als Randerscheinung abgetane Konzept der Dissonanz als Potenzial für eine partizipative Denkmalpflege.

Abb. 1: Bronzestatue von David de Pury in Neuenburg (1848 geschaffen von David d’Angers, platziert 1855). Ein «Farbanschlag» auf die Statue machte im Sommer 2020 augenfällig, dass David de Pury nicht nur Wohltäter, sondern auch Täter war. © Ville de Neuchâtel
In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2020 wurde die Bronzestatue von David de Pury in Neuenburg mit roter Farbe besprüht. De Pury hatte ab den 1720er-Jahren in London und Lissabon Karriere gemacht und sein beträchtliches Vermögen seiner Geburtsstadt hinterlassen. Neuenburg finanzierte damit städtische Bauvorhaben und verewigte ihn 1855 in einer Statue auf dem zentralen Platz der Stadt. Der «Anschlag» von 2020 machte augenfällig, dass David De Pury nicht nur Wohltäter, sondern auch Täter war: Das Blut Tausender Sklaven und Zwangsarbeiterinnen klebte nun für alle sichtbar an ihm.1
Die Neuenburger Aktion steht in direktem Zusammenhang mit der «Black Lives Matter»-Bewegung. Der gewaltsame Tod von George Floyd löste 2020 weltweit Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt aus, begleitet von zum Teil spektakulären Denkmalstürzen. Beweggründe und Ziele der Bewegung erhalten seither auch in der Schweiz vermehrt gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Verlangt wird eine konsequente Aufarbeitung kolonialer Verstrickungen sowie die Überwindung des strukturellen Rassismus. Dies zielt auch auf die Erinnerungskultur. Nicht nur in Neuenburg, sondern auch in Bern, Genf und Zürich entspannen sich Kontroversen um rassistisch konnotierte Inschriften und stereotype Darstellungen von Schwarzen an historischen Fassaden, in baugebundenen Skulpturen und auf Wappen.
Dissonanz
Aktivistinnen und Aktivisten sowie progressive Kräfte fordern radikales Entfernen aus dem öffentlichen Raum, weil eine stete bildliche Präsenz rassistischer Stereotypen Konzepte verfestige, die eigentlich überwunden werden sollten. Konservative sehen keinen Grund zum Handeln. Sie verweisen darauf, dass Klischees in Sprache und Bildwelt untilgbar angelegt seien und negieren rassistische Absichten. Heimatschutz und Denkmalpflege postulieren Erhaltung vor Ort, damit die Geschichte weiterhin erlebbar bleibe; allerdings begleitet von erläuternden und kontextualisierenden Massnahmen. Dies führt mitten in die Diskussion, wie wir mit Denkmälern und historischen Zeugnissen umgehen, die an die dunklen Seiten unserer Geschichte erinnern – an Krieg, Zerstörung, Unterdrückung und Verfolgung – und die zum Teil bis heute diskriminierende Botschaften transportieren. Dafür hat sich in der Forschung seit den 1990er-Jahren die Bezeichnung dissonantes oder unbequemes Kulturerbe herausgebildet. Dieses ist negativ belegt und wird als politisch und ethisch belastet wahrgenommen. An dissonantem Kulturerbe entspannen sich Kontroversen und Konflikte.
Das Thema erhält auch in der schweizerischen Denkmalpflege zunehmend Aufmerksamkeit. Die «Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz» von 2007 formulieren nur ganz grundsätzlich, dass auch Denkmäler erhalten werden sollen, die an Unrecht und erlittenes Leid erinnern oder die umstritten sind. Die von den aktuellen Diskussionen besonders betroffenen Städte geben seit 2020 historische Analysen in Auftrag und entwickeln gezielte Strategien im Umgang mit ihren dissonanten Denkmälern. Sie treffen Massnahmen, um koloniale Spuren sichtbar zu machen und den Rassismus im öffentlichen Raum zu bekämpfen. Das Bundesamt für Kultur verfasst im Juni 2022 «Empfehlungen zum Umgang mit unbequemem Erbe» und folgt darin im Wesentlichen den städtischen Strategien. Demnach ist es falsch, heute negativ konnotierte Seiten der Geschichte aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und damit aus dem Bewusstsein zu tilgen. Vielmehr wird empfohlen, sie vor Ort, in ihrem historischen Kontext zu erläutern und zeitgenössisch einzuordnen. Dazu dienen Vermittlungsangebote und künstlerische Interventionen. Nur wenn das anstössige Objekt auch in zeitgenössisch relativierter Form für unsere Gesellschaft oder Teile der Gesellschaft unerträglich ist, kommt gemäss dem Papier eine Entfernung in Betracht. Strassennamen sollten getilgt, Statuen ins Museum überführt werden. Für wandgebundene Objekte empfiehlt das Amt explizit die Abdeckung bei Belassung in situ. Eine irreversible Entfernung von Bauten und Bauteilen zieht es nur mit grösster Zurückhaltung und als ultima ratio in Erwägung. Für die Entscheidfindung werden nicht näher definierte transparente Debatten und partizipative Verfahren vorausgesetzt.

Abb. 2: Geschichte gegen den Strich lesen: Die Jungfraubahn ist nicht nur ein Denkmal für Adolf Guyer-Zellers Pioniergeist, sondern auch ein Mahnmal für die katastrophalen Arbeitsbedingungen der überwiegend italienischen Bauarbeiter. Jungfraubahn, Bohrarbeiten, Postkarte um 1905. © Edition Photoglob Zürich / SBB Historic, F_VARIA_00002
Harmonie?
Die rechtlichen und fachlichen Grundlagen zur Denkmalpflege in der Schweiz gehen davon aus, dass dissonante Denkmäler eine Ausnahme darstellen. Sie postulieren ein positiv konnotiertes, nationalstaatlich-identitär geprägtes Denkmalkonzept, das im Wesentlichen mit existenzialistischen und statischen Denkmalwerten operiert. Diese werden von Expertinnen und Experten ermittelt und durch Konservierungsmassnahmen unversehrt an künftige Generationen weitergegeben. So werden tradierte Bilder und vorherrschende Interpretationen perpetuiert. Unausgesprochen wird davon ausgegangen, dass es einen «übergeordneten» gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was denkmalwürdig ist und was nicht. Diese Herangehensweise verdeckt jedoch, dass Kulturerbe ein dynamisches Konzept ist. Es gibt keine absoluten, den Denkmälern innewohnenden Werte, die erkannt und entschlüsselt werden können. Je nach Kontext und Perspektive können ein und demselben Objekt ganz unterschiedliche Werte zugeschrieben werden; je nach Kontext und Perspektive kann Kulturerbe verbinden oder trennen. In einer offenen, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft wird jedes Denkmal mit mehrdeutigen und konkurrierenden Lesarten der Geschichte verbunden. Dissonanz ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Resonanz
In Bern, Genf, Neuenburg und Zürich wird zurzeit so intensiv über Denkmäler gestritten, wie schon lange nicht mehr und das ist gut so: Eine offene Gesellschaft lebt nicht nur vom Konsens, sondern auch vom Dissens. In den Streitgesprächen offenbaren sich unterschiedliche gesellschaftliche Bewertungen von Geschichte. Diese Dissonanzen eröffnen Räume für Diskussionen, denen wir uns stellen müssen, wenn uns wirklich etwas an einer inklusiven und auf die Gesellschaft bezogenen Denkmalpflege liegt, wie sie die 2019 von der Schweiz ratifizierte Faro-Konvention fordert. Dies bedingt ein Umdenken: Geschichte gegen den Strich zu lesen, alternative Denkmalinterpretationen zuzulassen und das baukulturelle Erbe unterdrückter oder randständiger Gruppen zu untersuchen. Neue partizipative Prozesse für Wertzuschreibungen, Inventarisierungen und Inwertsetzungen sind dringend nötig. Die Erfahrungen aus dem Umgang mit dissonantem Kulturerbe können so zum Ausgangspunkt für eine neue, kollaborative und kooperative Denkmalpflege werden.
1 In der Folge lancierte die Stadt Neuenburg einen Rundgang im öffentlichen Raum, der die vielfältigen Verbindungen der Stadt mit der kolonialen Welt aufzeigt. Siehe S. 14–17 in diesem Bulletin.
Literatur
Višnja Kisić, Governing Heritage Dissonance. Promises and Realities of selected Cultural Policies, Amsterdam 2016.
Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hrsg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2013.
Gabi Dolff-Bonekämper, Der Streitwert der Denkmale, Berlin 2021. DOI: 10.53171/978-3-9820586-7-2
Bundesamt für Kultur, Empfehlungen zum Umgang mit unbequemem Erbe, Bern 2022.
Websites
Ashkira Darman, Web-Plattform Geschichtsunterricht Postkolonial
www.geschichtsunterricht-postkolonial.ch
Genève: Monuments et héritage raciste dans l’espace public
www.geneve.ch > Suchbegriff: héritage raciste
Neuchâtel: Passé colonial
www.neuchatelville.ch > Sortir et découvrir > Passé colonial
Zürich: Rassismus im Stadtbild
www.stadt-zuerich.ch/rassismus-im-stadtbild