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Ein Wandbild geht auf Reisen

Translozierung eines politisch umstrittenen baugebundenen Wandbildes

Der Umgang mit dem Wandalphabet im Schulhaus Wylergut in Bern mit stereotypisierten Darstellungen aus der Kolonialzeit wurde in den vergangenen Jahren kontrovers diskutiert. Die Priorisierung der denkmalpflegerischen Werte des Objektes geriet in Konflikt mit dem gesellschaftlichen Wertesystem.

 

Abb. 1: Gesamtansicht des Wandalphabets von Emil Zbinden und Eugen Jordi (1949) im Schulhaus Wylergut in Bern, 2021. Die drei stereotypisierten Menschendarstellungen im Umfeld von Tier- und Pflanzenabbildungen wurden 2020 in einer Vandalismusaktion schwarz übermalt. © Chris Richter, HKB

 

Anfang des Jahres 2020 gelangte eine Anfrage des Projektteams «Das Wandbild muss weg» an den Fachbereich Konservierung und Restaurierung der Hochschule der Künste Bern (HKB) zur technischen Machbarkeit einer Abnahme und Translozierung des Wandalphabets von Emil Zbinden und Eugen Jordi (Abb. 1) aus dem Schulhaus Wylergut in Bern. Die Illustrierung des Alphabets auf der Wandfläche im Treppenhaus des Primarschulhauses entstand 1949 im Rahmen eines Kunst-am-Bau-Projekts. Neben dem Gemeinschaftswerk von Jordi und Zbinden gestaltete Rudolf Mumprecht im Aussenbereich an der Fassade des Schulhauses und an der Wand der offenen Pausenhalle im selben Bauvorhaben zwei weitere Werke. Auf den 24 bunten Bildfeldern des Wandalphabets sind, neben den Buchstaben, hauptsächlich Tiere und Pflanzen abgebildet. Eine Ausnahme bilden die drei Buchstaben C, I, und N, als Menschen dargestellt, stellvertretend für die drei Kontinente Asien, Amerika und Afrika. Die Wahl des Motivs des Alphabets diente ursprünglich auch didaktischen Zwecken, dem Erlernen von Buchstaben.

Die stereotypisierten Menschendarstellungen im Umfeld von Tier- und Pflanzenabbildungen wurden bereits in den 1990er-Jahren von Eltern der Schülerinnen und Schülern als «unerträglich» eingestuft, und die Schulleitung wurde zum Handeln aufgefordert.

Erst 2019 nahm die Kommission Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Bern die vermehrte Kritik aus der Öffentlichkeit zum Wandbild ernst und initiierte einen öffentlichen, transdisziplinären Wettbewerb zum kulturellen Erbe der Kolonialzeit am Beispiel des Wandalphabets. Kurz nach der Lancierung des Wettbewerbs wurden 2020 die drei stereotypisierten Menschendarstellungen in einer Vandalismusaktion schwarz übermalt. In einem Bekennerschreiben an die Zeitung «Der Bund» wurde die Tat mit der Untätigkeit der Stadt Bern und einer Überbewertung des Denkmalschutzes im Gegensatz zu institutionellen Rassismen begründet.

Den Wettbewerb gewann das Projekt «Das Wandbild muss weg». Es sah die Abnahme des Bildes und seine Verlegung ins Museum vor – mit dem Ziel der Aufarbeitung und der Aufklärung der Zeit des Kolonialismus, aber nicht in einer Primarschule. Ein Abdecken des Wandbildes in situ würde einem Verschwinden und dem Vergessen gleichkommen, so das Projektteam. Zum Zeitpunkt der Anfrage an die Hochschule war die Entscheidung über die Translozierung des Bildes bereits gefallen.

 

Abb. 2: Studierende arbeiten an den abgenommenen Bildfeldern im Atelier der Hochschule der Künste Bern. © Chris Richter, HKB

 

Ethisches Dilemma

Chartas und Codexe bilden die ethischen Grundlagen und Richtlinien des beruflichen Handelns der Restauratorinnen und Restauratoren (Charta von Venedig, 1964; ICOMOS-Richtlinien, 2005). Sie stellen den Schutz der materiellen Substanz in den Vordergrund und im Falle einer Wandmalerei zusätzlich den Erhalt in situ im architektonischen Kontext. Werte wie «Authentizität» und «Einheitlichkeit», ebenso «minimale Eingriffe» spielen eine übergeordnete Rolle in der Konservierung und Restaurierung von Kunstwerken in historischen Bauten. Überlegungen zu immateriellen Bedeutungen des Kulturerbes werden in der Regel weniger berücksichtigt.1

Eine Anfrage zur Abnahme eines Wandbilds, das aufgrund seines Erhaltungszustands keinen akuten Handlungsbedarf aufweist, aber rassistische Darstellungen beinhaltet, welche die Würde eines Teils unserer Bevölkerung verletzen, konfrontiert Restauratorinnen und Restauratoren mit der Herausforderung, sicher geglaubte ethische Grundlagen in einem erweiterten Kontext neu zu bewerten.

 

Wer bestimmt, was «unbequem» ist?

Das Gebäude und die Werke im Schulhaus wurden 1991 im kantonalen Bauinventar als erhaltenswert eingestuft. Dies bedeutet, dass Veränderungen und Erweiterungen, die auf den bestehenden Bau Rücksicht nehmen, erlaubt sind. Vor diesem Hintergrund wurde die städtische Denkmalpflege von der Kommission Kunst im öffentlichen Raum im Vorfeld, vor Initiierung des Wettbewerbs, um eine Beteiligung am Entscheidungsfindungsprozess zum Umgang mit dem Wandbild angefragt. Die Denkmalpflege befürwortete einen Diskurs in der Gesellschaft mit einer Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Kunstsachverständigen und zog sich deshalb aus dem Prozess zurück.

Zur Gewährleistung eines ausgeglichenen Meinungsbilds entschied die Stadt, im Wettbewerbsverfahren eine Jury einzusetzen, in der unterschiedliche Interessen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche vertreten sein sollten; Expertinnen und Experten der Konservierung und Restaurierung wurden nicht in die Entscheidungsfindung mit eingebunden.

Nach Empfehlung der Jury und Entscheidung der Kommission Kunst im öffentlichen Raum für die Abnahme des Wandbilds und der Translozierung ins Museum kontaktierte das Projektteam die Hochschule mit der Frage der technischen Machbarkeit der Abnahme.

Im Umgang mit historischen Objekten im öffentlichen Raum ist für Restauratorinnen und Restauratoren nicht nur die Entwicklung von Lösungsansätzen für technische Fragen relevant, sondern auch die Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen und den Werten der Öffentlichkeit. Die Konfrontation mit dissonantem Kulturerbe stellt Restauratorinnen und Restauratoren vor neue Aufgaben, speziell im viel diskutierten Thema der Wandmalereiabnahme – eine Massnahme mit Ausnahmecharakter.

 

Kooperation und Veranstaltungen

Das Projektteam «Das Wandbild muss weg» kontaktierte die HKB, um fachliche Expertise einzuholen und um eine weitere öffentliche, unabhängige Institution in den Diskurs mit einzubinden. Aufgrund der Aktualität des Themas wurde zu Beginn des Projekts eine vernetzte Betrachtung im internationalen Kontext angestrebt, unter anderem mit dem Studiengang der Konservierungs- und Restaurierungswissenschaft in Hildesheim.

Mit dem Ziel, den Diskurs für ein breites Fachpublikum zu öffnen, aber auch den Studierenden der HKB die Möglichkeit der Partizipation zu eröffnen, wurden mit Projektbeginn mehrere Kolloquien an der Hochschule in Bern durchgeführt mit Einbezug der beteiligten Interessenvertretungen, der Stadt Bern, des Projektteams und des Bernischen Historischen Museums.

 

Abb. 3: Im Streiflicht sind die dekorativen Ritzungen deutlich sichtbar, hier auf dem Bildfeld B. © Alicia Ledergerber

 

Wissenschaftliche Untersuchungen

Für die Machbarkeitsstudie zur Abnahme ist eine Untersuchung zum Werkprozess der Künstler, ihrer Malweise und Technik notwendig. Alicia Ledergerber2 führt in ihrer Masterthesis erste analytische Untersuchungen zu Materialien und Techniken durch, die ergänzt werden durch die Beschreibungen von Carmen Hiltbrunner in ihrer Bachelor-Abschlussarbeit.3

Die analytischen Untersuchungen belegen die Anwendung der Freskotechnik, phänomenologisch ist ein zweischichtiger Putzaufbau mit Tagewerken und Ritzungen im Feinputz zu erkennen (Abb. 3 und 4). Die Ritzungen haben in ihrer Ausführung pro Bildfeld einen dekorativen Charakter und bilden im Gesamteindruck eine für sich eigene Gestaltung, wie auf der Kartierung der Bildfelder zu sehen ist (Abb. 4). In der historischen Freskotechnik werden die Vorritzungen in der Regel nicht so detailliert ausgeführt.

 

Abb. 4: Kartierung der Bildfelder A, B und C. Orange: Ritzungen. Gelb: Kittungen. © Chris Richter, HKB

 

Historie der Wandmalereiabnahme

Anfang des 19. Jahrhunderts galt die Abnahme von Wandmalerei noch als progressive Konservierungsmassnahme. Man war der Ansicht, die Werke würden vor der Zerstörung gerettet. Hauptgründe für die Abnahme von Wandmalereien waren früher oft der schlechte Erhaltungszustand, Feuchtigkeitsprobleme oder Planungen einer autogerechten Stadt.

Die Entwicklung der Abnahmetechniken erreichte im 18. und 19. Jahrhundert in Italien ihren Höhepunkt, und somit haben auch die Begriffe ihren Ursprung in der italienischen Sprache. Bei den Abnahmeverfahren wird unterschieden zwischen drei Techniken: Stacco a massello, Stacco und Strappo (Abb. 5).

 

Abb. 5: Schema der drei Abnahmeverfahren von Wandbildern. © Illustration: Raimar Heber nach einer Zeichnung von Pilar Soriano Sancho. Aus: EwaGlos – European Illustrated Glossary of Conservation Terms for Wall Paintings and Architectural Surfaces, Petersberg 2015, S. 344. DOI: 10.5165/hawk-hhg/300

 

Mit der Professionalisierung der Abnahme in der Strappo-Methode, bei der die Malschicht vom Intonaco (Feinputz) abgelöst wird, wurden aus massiven Wänden mobile textile Bildträger. Die Wandmalereien waren somit leicht zu transportieren und der Kunsthandel florierte.4 Diesem «Missbrauch» gebot man Einhalt mit internationalen Richtlinien, die Werke vor Ort zu erhalten.

 

Konzeptentwicklung zur Abnahme

Der Aufbau der Schichtung eines Grob- und eines Feinputzes auf dem Mauerwerk und die Unterteilung der Buchstaben des Alphabets in 24 eingerahmte Bildfelder, ermöglicht eine Abnahme im Stacco-Verfahren (Abb. 5). Bei dieser Methode wird die Malschicht mit dem malschichttragenden Putz, beim Fresko dem Intonaco (Feinputz), abgenommen. Mit diesem Verfahren ist es möglich, die Ritzungen im Feinputz zu erhalten, allerdings erhöht sich das Gewicht durch die Schichtdicke des Putzes.

 

Abb.6: Bildfelder U und P mit aufliegendem Facing und Reduzierung des umgebenden Wandverputzes fürs Anlegen der Säge. © Alicia Ledergerber

 

Aufgrund der Anforderungen des Museums, das Wandalphabet nach der Abnahme und dem Ende der Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern» (Juni 2025) in seiner Sammlung einlagern zu können, konnten die Buchstabenfelder nur einzeln abgenommen werden und nicht in einer grösseren Einheit.

Nach Auswertung der Tests von Alicia Ledergerber und der Auswahl geeigneter Materialien wurden im April 2023 in Zusammenarbeit mit dem beauftragten Restaurator Ekkehard Fritz die Bildfelder U und P in einem Pilotversuch abgenommen (Abb. 6). Der Buchstabe U war nach der Abnahme unversehrt, das Bildfeld P erlitt Verletzungen durch die Verschiebung des Sägeschnitts an die Malschichtoberfläche. Die Ursachenanalyse der Beschädigungen ergab die zukünftige Verwendung eines starren Sägeblattes, sodass das Vorgehen in der Methode positiv interpretiert wurde.

 

Abb. 7: Kitten der Fehlstellen auf dem Bildfeld P. © Chris Richter, HKB

 

Restauratorische Massnahmen

Nach der Abnahme des Wandbildes durch den Restaurator und sein Team entwickelten Studierende der HKB in einem Praxisworkshop konzeptionelle Ansätze für ein neues anorganisches Trägersystem der 24 Bildfelder (Daria Jermann, 2022/23; Joel Keller, 2023). Aufgrund der unterschiedlichen Grösse der einzelnen Bildfelder fand ein intensiver Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der HKB und des Bernischen Historischen Museums zur Frage der Rahmung statt. Viele Besprechungstermine, auch mit Beteiligung des zuständigen Restaurators, führten zu einer guten Lösung.

Für das neue Trägersystem musste ein Mörtel mit Leichtzuschlagstoffen entwickelt werden. Ein Bachelorstudent führte dazu in einer Prüfungsarbeit Messreihen zur Kenndatenermittlung für die Zusammensetzung des Mörtels durch.5

 

Abb. 8: Kittung und Retusche auf dem Bildfeld E. © Chris Richter, HKB

 

Bei der Abnahme des Wandbildes im Stacco-Verfahren (Abb. 5) konnte die ursprüngliche Maltechnik mit den Ritzungen im Putz erhalten werden. Einige wenige Bildfelder wurden beschädigt und es kam dabei zu Verlusten der Malschicht. Die Fehlstellen im Motiv wurden nach konzeptionellen Überlegungen mit den Interessenvertretungen in Form und Farbe dem Umgebungston angepasst (Abb. 7 und 8). Alle Massnahmen und Veränderungen am Werk wurden in einer Dokumentation festgehalten.

 

Fazit aus der Abnahme des Wandbildes

Bei der Umsetzung der Massnahme konnte der Verlust an Substanz durch die Expertise der Hochschule in Zusammenarbeit mit dem Restaurator minimiert werden. Das Spannungsfeld zwischen der inhaltlichen Neubewertung des Werkes und dem dadurch resultierenden Verlust des architektonischen Kontexts, war bei den restauratorischen Arbeiten allgegenwärtig. In der Öffentlichkeit stiess der mehrheitlich demokratische Entscheid der Jury für die Abnahme immer wieder auf Widerstand, bis hin zu einem inhaltlich sehr aufreibenden Diskurs, was die Arbeiten der Restauratorinnen und Restauratoren beeinflusst und verzögert hat. Die Auswirkung von dissonantem Kulturerbe auf den Menschen erforderte auch von den Restauratorinnen und Restauratoren Erklärungen zu Rassismen sowie eine Positionierung. Mit dem Projekt hat für die Beteiligten auch ein persönlicher Lernprozess zum Thema Rassismus begonnen. Mithilfe der Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern» (bis 1. Juni 2025) im Bernischen Historischen Museum kann dieser Prozess in der Gesellschaft sowohl persönlich als auch professionell weitergeführt werden.

1 Jeremy C. Wells, Héctor J. Berdecía-Hernández, Reforming Architectural Conservation Pedagogy in the US to Disrupt Euro-American Supremacy in its Theories. In: Giovanna Di Pietro, Nico Broers, Education and Pedagogy. Conservation 360°, Nr. 3, 2024, S. 158–185. DOI: 10.4995/360.2024.670101

2 Alicia Ledergerber, Konzeptentwicklung zur Abnahme und Translozierung eines politisch umstrittenen baugebundenen Denkmals – Translozieren als Massnahme zum Erhalt? «Das Wandalphabet» im Schulhaus Wylergut von 1949 (MA-Thesis), Berner Fachhochschule, Hochschule der Künste, Bern 2022.

3 Carmen Hiltbrunner, Untersuchung der Malweise und Maltechnik der Künstler Emil Zbinden und Eugen Jordi am Wandalphabet Wylergut (Final Term Paper II), Berner Fachhochschule, Hochschule der Künste, Bern 2024.

4 Volker Schaible, Historisches und Ethisches zur Abnahme von Wandmalerei. In: Historische Technologie und Konservierung von Wandmalerei, Bern 1985, S. 143–150.

5 Joel Keller, Konzeptentwicklung eines neuen Trägersystems für die abgenommenen Bildfelder des Schulhauses Wylergut (Final Term Paper II), Berner Fachhochschule, Hochschule der Künste, Bern 2024.